Das hätte ich mir auch von der diesjährigen Erfurter Psychotherapiewoche gewünscht. Seit mehr als 10 Jahren fahre ich nach Erfurt, um dort Veranstaltungen zu besuchen und zu geben. Dabei waren die Plenarvorträge (inklusive Abendvortrag) immer ein besonderes Highlight – neben einem vielseitigen Seminarangebot, einer interessanten Stadt, einer bunten Mischung unterschiedlichster Kolleg*innen aus Ost und West… versierte Expert*innen und meist sehr gute Redner*innen aus angrenzenden Wissenschaftsgebieten gaben Einblicke in ihre Forschung zum Tagungsthema und ermöglichten einen die eigene Arbeit bereichernden Blick über den Tellerrand hinaus. Die Vorträge zeichneten sich durch Transparenz, Neutralität, gute wissenschaftliche Fundierung, nachvollziehbare Darstellung, vielfältige Perspektiven und Bezug zur therapeutischen Arbeit aus. Nicht so in diesem Jahr. Leider! Ich hoffe sehr, dass das ein „Ausrutscher“ war. Zum Thema „Gefährdete Denkräume in Psychotherapie und Gesellschaft“ habe ich die Hälfte der Vorträge als tendenziös, teilweise inhaltlich sich doppelnd und nicht von der bis dahin üblichen Qualität, Fundierung und Neutralität gekennzeichnet erlebt. Besonders negativ herausstechend war der Plenarvortrag von Frau Dr. Sandra Kostner („Wie das Streben nach gesellschaftlicher Transformation intellektuelle Unfreiheit befördert“), der ein umfangreiches Lamento über empfundene Unfreiheiten in der Forschung darstellte. Er enthielt zahlreiche einseitige und unbelegte Zuschreibungen, undifferenzierte Darstellungen und Diskreditierungen vermeintlicher Gegenspieler – bei gleichzeitigem Beklagen selbst Opfer von Diskreditierungen zu sein. Die Schlussfolgerungen waren nur vordergründig logisch und ohne Bezugnahme auf wissenschaftliche Forschung, mit Ausnahme einer Meinungsumfrage. Der Bezug zur psychotherapeutischen Arbeit erschloss sich mir nicht. Dieser (und zwei weitere) Vorträge waren aus meiner Sicht nicht geeignet, in einen konstruktiven Dialog über so drängende Themen unserer Zeit einzusteigen wie das Verhältnis von individueller zu kollektiver Freiheit der derzeitigen und künftigen Generationen oder über die bedrohlichen Veränderungen im gesellschaftlichen und physikalischen Klima. Über Perspektiven und Wege lässt sich diskutieren. Wenn aber Meinungen und Fakten vermischt werden und wir uns von der Idee lösen, auf eine geteilte Realität und wissenschaftliche Evidenz Bezug nehmen zu können, dann sind Willkür und Spaltung Tür und Tor geöffnet. Anekdotische und wissenschaftliche Evidenz sind nicht gleichzusetzen – so war es auch auf derselben Tagung in dem sehr fundierten Vortrag von Prof. Dr. Dipl.-Psych. Aileen Oeberst „Zur Belastbarkeit und Beeinflussbarkeit von Erinnerungen“ zu hören. Und Meinungsfreiheit bedeutet auch nicht, einen Anspruch auf Widerspruchslosigkeit zu haben, wie es im sehr gelungenen Abendvortrag zum Thema „Meinungsdruck, Wissenskämpfe, Desinformation: Gedankenfreiheit im digitalen Zeitalter“ von Prof. PD Dr. Marie-Luisa Frick ausgeführt wurde. Es geht mir mit meiner Kritik an den o.g. Vorträgen weniger um die Diskussions- und Fragwürdigkeit ihrer Inhalte als darum, dass ihr augenscheinliches Agendasetting und ihre (teilweise) Abkehr von bisher gültigen wissenschaftlichen Standards wichtige Grundlagen zur Lösung drängender Fragen unserer Zeit unterhöhlen. Wir leben in unruhigen und schwierigen Zeiten. Da halte ich es für sinnvoll und notwendig, dass jede Profession ihren Beitrag dazu leistet, dass wir uns selbst und einander unterstützen, Überforderungen möglichst abwenden, auf Nebenschauplätze verzichten, zusammenwirken und Vertrauen und Kooperation fördern. Vor dem Hintergrund, dass die Plenarvorträge in der hybriden Veranstaltung auch gestreamt wurden, möchte ich anregen, sich etwaige Mitschnitte mit etwas Abstand nochmals anzusehen und zu prüfen. Ich bin gespannt auf nächstes Jahr…

Meike Pudlatz, 21.09.2024

Beitragsbild von Caro Paulick auf Unsplash