Hunderte Psycholog*innen raten nach EU-Wahlen zu Umdenken in der Klimakommunikation
Wir leben in einer Zeit der (chronischen) Polykrisen, deren Ende nicht in Sicht kommt: Kriege, Klimakrise, Extremwetterkatastrophen, Artensterben, um nur die bekanntesten zu nennen. Das fordert viele Menschen maximal und führt zu Gefühlen wie Angst, Überforderung, Ohnmacht, Kontrollverlust. Es gehört viel Mut dazu, sich diesen Gefühlen zu stellen, denn letztlich geht es um Fragen von Leben und Tod. Dass dies wörtlich zu nehmen ist, zeigen z.B. die tragischen Todesfälle im Zusammenhang mit den immer häufigeren Extremwetterereignissen.
Abwehrmechanismen wie Vermeidung, Verdrängung, Relativierung und Spaltung sind aus psychologischer Sicht verstehbare Erstreaktionen auf die Konfrontation mit großen Bedrohungen, um nicht von extremen und schwierigen Gefühlen überrollt zu werden.
Populist*innen nutzen diese existenzielle Verunsicherung als Hebel für ihren Machtgewinn. Sie beantworten mit ihren Narrativen die Sehnsucht von Menschen, sich diesen „schwierigen“ Gefühlen nicht dauerhaft aussetzen zu müssen und bedienen sich dabei verschiedener Strategien wie die Aufteilung der Gesellschaft in „wir gegen die“; „gut gegen böse“; „gesunder Menschenverstand gegen abgehobene intellektuelle Elite“. Sie entwickeln so die entlastende Erzählung eines Volkes der Guten, die sich gegen die „anderen“ zur Wehr setzen müssen, indem diesen das Recht auf Teilhabe an Gesellschaft und Wohlstand abgesprochen wird.
Diese „Lösungen“ scheinen eine attraktive Antwort zu bieten auf die drängenden Ängste vieler vor Wohlstandsverlust und sozialem Abstieg. Eine weitere populistische Strategie ist die bewusste Leugnung der Krisen, insbesondere der menschengemachten Klimakrise, womit sie ihre Anhänger*innen vermeintlich von der Bedrohung befreien, selbst etwas tun zu müssen zur Bewältigung der Krisen. Stattdessen lautet die Botschaft: „Die Ursache Deiner Angst ist nicht Dein Verhalten, sie findet sich auch nicht in derzeitigen zerstörerischen Strukturen, sondern die Ursache sind die anderen, die nicht vorhandene Katastrophen erfinden, um deinen Wohlstand zu schmälern.“ Damit können Menschen ihre eigene Verantwortung für die Zukunft delegieren an „starke“ Führer*innen, die ihnen jede Zumutung ersparen.
Dass diese Narrative bei viel zu vielen Wähler*innen verfangen, zeigen einmal mehr die Ergebnisse der Europa-Wahlen. Allerdings müssen diese Erfolgszahlen mit dem Agieren der demokratischen Parteien zusammen gesehen werden: Über Parteigrenzen hinweg hat sich eine Politik der organisierten Zumutungslosigkeit etabliert: Die Krisen werden zwar nicht geleugnet, aber im Wesentlichen wird den Wähler*innen versprochen, es sei möglich, den Kuchen zu essen und ihn zu behalten. Es wird den Wähler*innen suggeriert, ein Weiter-so-wie-bisher sei prinzipiell möglich. Das aber beschädigt nicht nur die Glaubwürdigkeit, sondern wird sich perspektivisch als Bärendienst erweisen, denn grundlegende Veränderungen und Umwertungen SIND nötig. Darüber besteht wissenschaftlich kein Zweifel wie z.B. in den aktuellen Berichten des IPCC nachzulesen ist. Aus der aktuellen psychologischen Resilienz-Forschung wissen wir zudem, dass Menschen sehr viel besser in der Lage sind, gesund und konstruktiv auch mit großen und herausfordernden Belastungen umzugehen, wenn sie gut und ehrlich über die zu erwartenden Anforderungen und den dahinter liegenden Sinn informiert sind.
Gleichzeitig erleben viele Menschen, dass ihre Sorgen und Nöte von den demokratischen Parteien nicht ernst genommen, sondern hintan gestellt werden: Als Beispiel sei hier genannt die immer wieder immer weiter aufgeschobene Einführung eines Klimageldes, das die Mehrbelastung durch die ansteigende CO2-Bepreisung gerade für Haushalte mit geringerem Einkommen auffangen sollte. Auch der Vorschlag, über Anhebung von Freibeträgen etc. bei der Einkommenssteuer die Belastungen durch die gestiegene Inflation abzufedern, geht an Haushalten mit geringerem Einkommen, die überdurchschnittlich von der Inflation belastet sind, völlig vorbei.
Das verstärkt das Misstrauen gegenüber den demokratischen Parteien, denen dann per Stimmzettel das Vertrauen entzogen wird zugunsten von Parteien, die die Demokratie in Frage stellen.
Um das Vertrauen der Menschen wiederzugewinnen, hilft nur, das längst nicht mehr glaubwürdige Narrativ der zumutungslosen Krisenbewältigung zu beenden und keine vermeintlich einfachen Lösungen zu versprechen. Das sollten alle demokratischen Parteien als ihre Aufgabe begreifen. Auch, wenn das unbequem ist: Sie sollten mit Ehrlichkeit auf die Wähler*innen zugehen und damit signalisieren, dass sie die Wähler*innen ernst nehmen. Nur so lässt sich sinnvoll dem Dilemma begegnen, dass diejenigen, die wissenschaftliche Fakten wahrheitsgemäß kommunizieren, bei Wahlen Stimmen verlieren. Was wir sowohl individuell als auch übergreifend brauchen, ist ein Narrativ, das ermutigt zu Neuem statt festzuhalten am Weiter-so-wie-bisher. Dafür ist eine Politik notwendig, die den Mut hat, nicht nur die verschiedenen Krisen zu benennen, sondern auch die Zumutungen, die sie für einzelne und Gesellschaft mit sich bringen. Ebenso muss die Politik glaubhaft aufzeigen, was wir zu gewinnen haben, wenn wir uns gemeinsam, als Gesellschaft in unserem Land, in Europa und auch global diesen Herausforderungen und Zumutungen stellen und auch die Belastungen, die damit einher gehen, fair verteilen. Erst dann können wir miteinander eine Zukunft in Würde und Solidarität schaffen.
Beitragsbild: Foto von Sara Kurfeß auf Unsplash